Kommentar Christian Schmid

Mit Christian Schmid, Professor für Soziologie an der ETH Zürich, verbindet mich eine lange Freundschaft. Seit dem Opernhaus-Krawall von 1980 in Zürich, haben wir uns immer wieder über die Frage unterhalten, wie Video in der ethnografischen Stadtforschung eingesetzt werden kann, um mit den Leuten und nicht über oder gegen sie Forschung zu betreiben. Christian Schmid: «Wir von der Projektgruppe Community Media (vom Ethnologischen Seminar der Universität Zürich) versuchten mit Video unsere Gesellschaft teilnehmend zu beobachten und begleitend zu erforschen, zusammen mit Leuten aus diversen Aktionsgruppen in der Stadt.» (vgl. Christian Schmid Video 08.26: Ethnografische Videos zwischen Dokumentation, Partizipation und Aktivismus)

Christian Schmid thematisiert auch den Umgang der Behörden mit Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern. Die Aussagen von Stadtrat Max Koller im Video Aktion Hellmutstrasse sind legendär geworden: «Ja, da sind diese amöbenhaften Gruppen, die jeden Tag wechseln und mit denen man nicht wirklich verhandeln kann. Da weiss man ja nie, woran man ist. Die kann man nicht packen, wenn es darauf ankommt!» Video brachte also verschiedene Kontrahenten, die sonst nicht miteinander diskutierten, im gleichen Film zusammen (vgl. Christian Schmid Video 13.50: Aktion Hellmutstrasse und wie Video einen Prozess vorantreiben kann).

In den traumatischen Zeiten der Zürcher Jugendunruhen 1980/81, als die Repression von Polizei und Justiz die Bewegung in die Knie Zwang, wurde Video auch eingesetzt, um die Übergriffe der Polizei und die zum Teil schweren Verletzungen zu dokumentieren. Das Video Gwalt (schweizerdt. für Gewalt) wurde an einem Tribunal der Bewegung gegen die Behörden als Beweismittel eingesetzt. Christian Schmid: «Für uns wurde die Arbeit an diesem Video selbst zu einer traumatischen Erfahrung, weil wir uns diesen persönlichen Geschichten stellen mussten, die ja auch uns hätten passieren können.» (vgl. Christian Schmid Video 31.47: Wie es für die Gruppe Community Media weiterging, ein Film über die Verletzten der Krawalle)

Christian Schmid ist weiterhin davon überzeugt, dass es sich lohnt, aus sozialen Bewegungen heraus zu filmen. Dabei stellt sich eine Reihe von Fragen: «Wie läuft der Rückkoppelungsprozess zwischen den Filmschaffenden und den aktiven Gruppen? Wie wird mit den Filmen gearbeitet, wie kann man sie einsetzen? Es ist wichtig, diese Filme auch ganz konkret an Veranstaltungen einzusetzen, als ein Medium der Diskussion und Reflexion.» (vgl. Christian Schmid Video 52.08: Über die Aktualität von Bewegungsvideo)

Ich wünsche eine anregende Videolektüre!

Heinz Nigg

Das unabhängige Videoschaffen und das internationale Phänomen der Jugendbewegungen in Europa befeuerten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren gegenseitig: Die jungen Aktivisten entdeckten das Video als neues Medium, brachten Proteststimmungen zum Ausdruck und kämpften um autonome kulturelle Freiräume. Videoproduktionen entstanden partizipativ, unmittelbar und schnell; sie markieren einen wichtigen Schritt ins digitale Zeitalter.

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